Was passiert in unserem Nervensystem während dieser Pandemie

Was passiert in unserem Nervensystem während dieser Pandemie

Ein Skizze aus Sicht eines Trauma-Seelsorgers

Zur Sachlage:

Vieles, wenn nicht alles, ist im Moment aufgrund der Pandemie in Aufregung und Unsicherheit. Wir werden von unterschiedlichen Informationen überhäuft. Wenn es keine Informationen gibt, beunruhigt uns das genauso wie zu viele oder zu unterschiedliche Informationen.

Das Resultat ist: Verunsicherung, Überlastung, Angst, Aktionismus und/oder Lethargie greifen um sich.

Zuallererst haben wir un in der Entwicklung der Notfallseelsorge folgenden Satz immer wieder erzählt:

Es ist normal, unnormal zu reagieren, wenn Unnormales passiert.

Ein kurzer Blick mit den Augen eines Trauma-Seelsorgers

In der Trauma-Seelsorge behelfen wir uns der Einfachheit halber, mit einer Skizze, die aus der Psychotraumatologie stammt.

Das Gehirn ist dreigeteilt:

  • der älteste Teil ist das Stammhirn. Es ist u.a. wichtig für alle unbewussten Regulationen in unserem Körper. Atmung, Blutdruck und vieles mehr wird dort gesteuert.
  • in der Mitte unseres Gehirns ist das limbische System. Alles, was unsere Sinne aufnehmen, wird dort registriert und bewertet. Sehr einfach gesagt: das limbische System entscheidet: ungefährlich oder gefährlich. Meldet es UNGEFÄHRLICH, werden die Sinneseindrücke in
  • den NEOKORTEX, den jüngsten Teil unseres Gehirns, eingeordnet. Das Leben kann dann „unbeschwert“ weitergelebt werden. Meldet das limbische System aber GEFAHR, kann das, was gerade passiert, zunächst nicht in dieses wichtige Areal eingeordnet werden. Es wird „zurückgewiesen“, d.h. das Stammhirn setzt sich in Aktion und übernimmt die Kontrolle. Drei Möglichkeiten hat unser Stammhirn:
  • – kämpfen
  • – flüchten
  • – einfrieren

Genau diese drei Möglichkeiten haben wir, wenn uns, wie jetzt, etwas völlig Neues und potenziell Gefährliches passiert. Unser Nervensystem wird in hohe Alarmbereitschaft versetzt. Wie kann ich mit dieser unbekannten, nicht wirklich abschätzbaren Gefahr umgehen? Wie kann ich mich und jene, die mir wichtig sind, schützen?

Und es beginnt der Kampf…

…. auch ums Klopapier.

Von dieser Seite betrachtet sind die sogenannten Hamsterkäufe ein Versuch, der Gefahr zu begegnen, weil das Nervensystem in Aufruhr ist. Ein unbewusster Kampf ums „Überleben“ hat begonnen, weil wir AKTIV etwas tun wollen, um uns abzusichern. Und es gibt noch andere Kampf-Fronten: Kinder und Jugendliche müssen zuhause sein ohne ihre Ausweichmöglichkeiten von Schule und Freunden. Eltern müssen ohne Ausweichmöglichkeiten miteinander auskommen und mit ihren Kindern leben und lernen. Und vieles mehr. Das Herausgerissensein aus den alltäglichen Abläufen führt potenziell zu individuellen und sozialen Überlastungssymptomen im Nervensystem. eine der leichtesten Kampf-Übungen sind dann SCHULDZUWEISUNGEN. Die da oben sind schuld. Die Rücksichtslosen sind schuld. Und so weiter und so fort.

Viele werden durch alarmierte Nervensystem in die Flucht geschlagen.

In dieser Zeit sind aber die realen Flucht-Wege fast alle abgeschnitten. Also stellt sich die Frage, wohin kann ich flüchten? Im Moment gibt es nur einen Weg: hinein in die eigenen vier Wände. Dieser Flucht-Weg ist notwendig und zielführend. Das sagen die Virologen und die verantwortungsbewussten und führungsstarken Politiker. Und ich stehe nicht an, diesen Vorschlägen, Verfügungen und Regeln zu widersprechen. Diese Flucht kann aber auch einen besonderen Haken haben. Sie kann zu subjektiv gefühlter ISOLATION führen. Die üblichen Möglichkeiten wie Freunde treffen, geregelten Freizeitbeschäftigungen nachgehen und v.a. zur geregelten und geübten Arbeit auszuweichen gibt es für viele nicht. Sie sind im Kontext „Corona-Krise“ notwendigerweise für den Moment verbaut. Und keiner weiß, wie lange das so sein wird. Wichtige Bezugspersonen, auf die wir normalerweise bauen dürfen, fallen ggf. weg, Bindung muss vernachlässigt werden. Zusammenhalten, indem wir Abstand halten – eine für viele paradoxe Intervention.

Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt: Wer mag sich schon sagen lassen, dass er oder sie für den Moment nicht systemrelevant und/oder systemerhaltend ist? Wer will sich schon sagen lassen und ggf. sogar für sich selbst für-wahr-nehmen, dass die bisherige Lebens- und Arbeitsweise im Moment der Krise zu gefährlich für die Allgemeinheit ist und damit „keinen Sinn macht“? Zur Virus-Krise treten eine Kränkungs-Krise und eine Sinn-Krise.

Manche Wissenschaftler der unterschiedlichsten Richtungen – ob aus Ökonomie oder Zukunftsforschung – warnen davor, dass die jetzigen Lösungswege, der Pandemie-Krise zu begegnen, auf Dauer auch gefährlich werden können. Ganze Sozial- und Wirtschaftssysteme können auf Dauer kippen, ganz zu schweigen von der Angst um die eigene Existenz.

Und? Schon wieder so viel an unterschiedlichen Wenn und Aber. Schon wieder soviel an nützlicher oder unnützer Information….

GUT, DASS UNSER NERVENSYSTEM NOCH GANZ ANDERS KANN. Es hat die Möglichkeit zum….

….EINFRIEREN

Wir alle kennen sogenannte DISSOZIATIVE ZUSTÄNDE. Wir bekommen manche Dinge, manche Gegebenheiten gar nicht mit. Wir sortieren in unserer Wahrnehmung einfach aus. Wir sind überlastet und „kriegen einfach gar nichts mehr mit“. Manchmal sind dissoziative Momente wichtig und gut für unsere eigene Gesundheit.

Zuviel ist zuviel.

Die einfachste Beschreibung für ein TRAUMA: Es sit für das Nervensystem

  • zu plötzlich
  • zu schnell
  • zu viel und
  • zu langanhaltend.

Dissoziation ist ein wunderbarer Schutzmechanismus für unser Nervensystem. Wenn unser Nervensystem aber auf Dauer und beständig „abgeschaltet“ ist, kann dies schwere Belastungen auslösen.

Wie zeigt sich womöglich diese „Abgeschaltetsein“ im Kontext der „Corona-Krise“ auch bei uns?

  • durch Verleugnung
  • durch Bagatellisierung
  • durch Einnehmen der „Vogel-Strauß-Methode“: „Es wir schon nicht so schlimm werden oder sein…“
  • durch intensive „Beschäftigung“ mit dem, was zwar für mein bisheriges System ganz wichtig war, jetzt aber offensichtlich nicht gefragt ist.

Im Zustand des „abgeschalteten Nervensystems“ gilt für sehr viele Peer-Gruppen der Modus: Wir machen jetzt erstmal weiter wie gewohnt und konzentrieren uns auf das, was wir können. In diesem Zustand ist es sehr schwer, eingeübte Wege zu verlassen. Eine ausgewogene Balance ist nahezu unmöglich.

Ein Ausflug in die Salutogenese – oder: Was sind Grund-Ingredienzien für die Gesundheit von Menschen?

  • Wir Menschen müssen verstehen können, was um uns und in uns geschieht.
  • Wir müssen handlungsfähig sein und
  • wir müssen in dem, was wir leben, einen Sinn finden können – nicht die großen Sinnentwürfe, sondern die kleinen Sinn-Angebote wahrnehmen und umsetzen. Das ist gefragt.

Ohnmächtig zu sein, ist der am schwierigsten auszuhaltende Zustand für uns Menschen. Aber viele individuelle und systemische Nervensysteme sind im Angesicht der „Corona-Krise“ ohnmächtig. Wirklich etwas tun, geht nicht. Wirklich etwas Großes gestalten, geht nicht. Wirklich etwas allumfassend Sinnvolles tun, geht nicht.

Aushalten, in Kleinigkeiten den Sinn entdecken, das erzählen wir uns in der Seelsorge sehr häufig. Jetzt ist die Nagelprobe für diese Erzählungen.

Und:

Das, was in der Gesellschaft als „shut down“ bezeichnet wird, passiert auch in unserem kirchlichen System. Wir sind vorderhand ohnmächtig und in vielfältiger Weise angeblich oder wirklich nicht systemrelevant. Das ist für viele sehr schwer zu ertragen und wird sowohl theologisch als auch pastoral in ruhigeren Zeiten intensiv zu reflektieren sein. Aber weder „Scheinbeschäftigungen“ noch das „Vogel-Strauß-Prinzip“ sind auf Dauer für die Nervensysteme in großen Systemen hilfreich.

Das Schlagwort „Gott und den Menschen nahe“ aus dem Pastoral-Konzept der späten 90er Jahre in der Diözese Passau könnte eine Richtschnur sein.

Kollegen aus ganz Bayern erzählen, dass sich viele Verantwortliche in der Kirche auf die Kernkompetenz der Liturgie und Spiritualität konzentrieren – zweifelsfrei ein sehr wichtiger und unverzichtbarer Teil der Sorge. Die Frage muss aber auch gestellt sein, welche Synergien wir vorausschauend aus der anderen Kernkompetenz der Kirche generieren können?

Wie können wir die vorhandenen Ressourcen der Telefonseelsorge, der Krankenhausseelsorge, der Ehe-Familien-Lebensberatung, der Notfallseelsorge und der Krisenseelsorge im Schulbereich in unseren System bündeln und nutzen, um sie auf Anfrage den Kommunen für viele verunsicherte Menschen zur Verfügung zu stellen?

Und was könnte das für uns in der Notfallseelsorge bedeuten?

Auch wir müssen eingefräste Wege verlassen. Wir müssen umstrukturieren. Wir müssen mit Ungewissheiten und Zögerlichkeiten umgehen, damit wir für andere gut DA-SEIN können. Wir sollten uns an das erinnern, was wir zum Aufbau von Ressourcen von Ulrike Reddemann gelernt haben und mittlerweile selbst lehren. Wir können….

  • soziale Beziehungen auf ganz vielfältige und kreative Art pflegen
  • Krisen als überwindbar ansehen
  • Veränderungen als Teil des menschlichen Lebens verstehen
  • eigene Ziele entwickeln, bewusst machen und anstreben
  • aktiv werden (körperlich, geistig, seelisch, spirituell, kreativ)
  • Belastungen als Gelegenheit zum Wachstum ansehen
  • ein positives Selbstbild pflegen
  • eine breite Perspektive behalten
  • optimistisch und hoffnungsvoll bleiben
  • für uns selbst sorgen

NOCHMALS: ES IST NORMAL, UNNORMAL ZU REAGIEREN, WENN UNNORMALS PASSIERT!

Bleiben wir gelassen in der Hektik und gut miteinander im Kontakt. Hoffentlich nicht nur ein frommer Wunsch.

Dieter Schwibach, Dipl. Theol. Pastoralreferent, Traumberater/Traumapädagoge DeGPT/BAG-TP, Fachreferent für Trauma-Seelsorge, Lehrer für Funktionelle Entspannung: dieter.schwibach@gmx.de



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