07 Okt Notfallseelsorge im Newsletter des Fachbereichs Ökumene und Dialog der Religion in der Erzdiözese München-Freising
Notfallseelsorge als Dienst der Kirche
„Das nächste Hochwasser kommt bestimmt“ heißt es in einem aktuellen Werbespot der DLRG.[1] Und pünktlich Anfang Juni war es wieder so weit. Die Notfallseelsorge von
Augsburg traf es heftig. Ähnlich wie die NFS von Passau und Regensburg in den Jahren 2013 und 2016. Während Augsburg alle Kräfte zu mobilisieren hatte, war
es für Passau und Regensburg heuer „nur“ eine Wiederbegegnung mit den damaligen Ereignissen, die mit einem „hellblauen Auge“ gemeistert werden konnte.Albrecht Brömme, ehemaliger Chef des THW, sprach davon, dass sehr viele Menschen an einer sogenannten „Flut-Demenz“ leiden würden. Nach den Aufräumungsarbeiten vergessen, bzw. verdrängen die Menschen die Ereignisse, damit ein unbeschwertes Leben geführt werden kann.Diese von ihm benannte „Flut-Demenz“ hatte heuer einen teuflischen Haken. Als die Menschen entlang der Donau Kenntnis davon hatten, dass eventuell eine neue Katastrophe zu erwarten wäre, stiegen abrupt die Hilfeanrufe in der Telefonseelsorge und in den potenziellen Überflutungsgebieten waren die Einsatzkräfte der Notfallseelsorge sofort wieder
gefragt, um Räume zu ermöglichen, in denen die Angst und die Sorge deponiert werden konnten.Notfallseelsorgende wissen, dass bei existentiell gefährdenden Ereignissen das individuelle, wie auch das kollektive Nervensystem verunsichert ist und die unmittelbar und mittelbar betroffenen Menschen heftige Symptome erleiden. Das Spektrum reicht von Hyperaktivität bis zu ohnmächtiger Hilflosigkeit und Resignation. Und dazwischen ist jedes Symptom möglich. Die Menschen sind schwer belastet, weil verunsichert und orientierungslos. Ist die Gefahr überstanden, stellt sich ein alltagstaugliches Lebensgefühl wieder ein. Die Selbstregulation der Menschen ist in den meisten Fällen intakt. Das Erleben der Bedrohung wird psychisch/seelisch „eingepackt“. Die Belastungsstörungen ebben in der Regel ab. Aber in den seltensten Fällen kann das Erlebte tatsächlich in die Lebensgestaltung folgenlos integriert werden. Allein die mögliche existentielle Bedrohung, wie heuer entlang der Donau, ruft die alten Bilder wieder in die Gegenwart zurück, die Sorgen- und Angstsymptome kommen wieder an die Oberfläche, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit regieren individuell und kollektiv. Nicht unwesentlich mag daran auch eine exzessive Berichterstattung
einen Teil dazu beitragen.Aufgabe der Notfallseelsorge ist es, den Betroffenen unaufgeregt nachzugehen. Seelsorge stellt sich zur Verfügung. Sie betreibt Streetwork und muss situationsgemäß, d.h. individuell zur Verfügung stehen. Notfallseesorge, also Kirche, geht zu den Menschen. Sie stellt wenigstens für kurze Zeit einen Zwischenraum zur Verfügung, in dem Betroffene für kurze Zeit zum Atmen kommen können. Sie stellt im übertragenen Sinn „Kotzkübel“ auf, damit erste Entlastungsreaktionen möglich werden. Schimpfen, Klagen, Jammern, Schreien,
Stummsein, Weinen, Anklagen brauchen Raum, damit sich die Seele Luft verschaffen kann, damit das Nervensystem Boden unter den Füßen gewinnt, um wieder alltagstauglich werden zu können.Die Notfallseelsorge ist wesentlicher Bestandteil der Psychosozialen Notfallversorgung in Deutschland und mittlerweile auch standardisierter Teil in den Führungsgruppen Katastrophe (FüGK) in den jeweiligen Landkreisen und Kreisfreien Städten. Es war ein langer Weg, sowohl in den Kirchen, als auch in der Gesellschaft, bis erkannt wurde, dass neben den
wichtigen Hilfsdiensten die stabilisierende Arbeit der Notfallseelsorge in die traditionellen Katastrophenstrukturen mitgedacht und eingebunden wurden.Diese Strukturen sind wichtig, damit Kirche ihren Dienst an den Menschen leisten kann.
Sie reichen aber in keiner Weise aus. Kirchliche Notfallseelsorge muss verstärkt die neuesten Ergebnisse der Psychotraumatologie intensiv zur Kenntnis nehmen und sie für die Pastoral angemessen und handlungssicher übersetzen. Basierend auf den Forschungsergebnissen von Peter Levine, Luise Reddemann, Steven Porges und vielen anderen gelingt es durch die „Trauma-Pastoral“[2] erfahrene Kolleginnen und Kollegen in der Seelsorge zu befähigen schwer belastete Menschen qualitativ zu begleiten.Im Alltag kümmert sich Notfallseelsorge in der Akutphase um Menschen, die plötzlichen Tod von nahen Menschen, existentielle Bedrohung und Verluste zu erleiden haben. Sie dient der Sicherheit und Orientierung. Sie kann auch für die Stabilisierung von Einsatzkräften gerufen werden.Notfall – SEELSORGE muss längerfristig und niederschwellig sich weiterentwickeln, so dass schwere Belastungen erkannt, adäquat begleitet und beraten werden können. Sie muss so gut sein, dass Sicherungsmöglichkeiten gekonnt werden. Sie muss um die Symptome wissen und Türen öffnen zur weiterführenden medizinisch/therapeutischen Regelversorgung.
In einer sich dramatisch verändernden Welt sind Notfall-Seelsorgende konfrontiert mit den Reaktionen und sich zeigenden Symptomen von Mensch und Gesellschaft. Sie haben das Drama zur Kenntnis zu nehmen, ohne es zu befeuern. Im Gegenteil. Kirchliche Notfallseelsorge zeigt im „Resonanzphänomen“, durch das „Einfach Da Sein“ die Botschaft, dass es keinen „gottvergessenen Raum“ gibt.
Dieter Schwibach, Dipl. Theol., Pastoralreferent, Diözesanbeauftragter für Notfallseelsorge in der Diözese Passau, Traumaberater/Traumapädagoge DeGPT/BAG-TP, Lehrer für Funktionelle Entspannung, TZI-Diplom, Fachreferent Trauma-Pastoral, Supervision
Newsletter Oktober 2024: „Sorge um das gemeinsame Haus“ – Ökumenisches und interreligiöses Engagement für den Erhalt der Schöpfung (erzbistum-muenchen.de)
[1] Deutsche
Lebensrettungsgesellschaft, Werbeanzeige in der PNP, 25. Juli 2024, S. 34[2]
Fortbildungs-Institut Trauma-Pastoral; www.trauma-pastoral.de